Eine Stellungnahme von Cornelia Beeking und Unterstützer:innen, die sich zu einer interdisziplinären Gruppe von Fachleuten aus dem Bereich Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien zusammengeschlossen haben.
Infektionsschutz und psychische Gesundheit für Kinder und Jugendliche müssen in der Pandemie nicht konträr, sondern gemeinsam gedacht und optimal gefördert werden! Hohe Pandemiedynamik macht psychosozialen Stress, je länger psychosozialer Stress andauert, desto mehr macht er psychisch und körperlich krank.
Kinder, Jugendliche und Familien sind durch die Pandemie in vielfacher Weise betroffen5. Starke Veränderungen ihrer Lebenswelt, umfassende Erschwernisse der Möglichkeiten der sozialen und emotionalen Teilhabe, finanzielle und existenzielle Sorgen in Familien sowie die Krankheit selbst stellen ein vielfältiges Netz von Belastungsfaktoren dar, die sich wechselseitig verstärken5,19,25. Als interdisziplinäre Gruppe von Fachpersonen aus dem Bereich der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien fordern wir:
Maßnahmen des Infektionsschutzes und des Kinderschutzes müssen jetzt zusammen gedacht und umgesetzt werden, um Kinder, Jugendliche und Familien bestmöglich zu schützen.
Kinder haben mittlerweile deutschlandweit fast die höchsten Inzidenzen aller Bevölkerungsgruppen und sind damit häufig von Infektion, Isolation und Quarantäne betroffen. Sie nehmen an der Pandemie teil, können infiziert werden und andere infizieren. Auch wenn die primäre Erkrankung meist weniger schwer als bei Erwachsenen verläuft, kann doch auch für Kinder eine nennenswerte Krankheitslast gemessen werden13,14,28. Aktuelle Daten aus USA und UK weisen auf erhöhte Hospitalisierungsraten unter der Ausbreitung der Omikron-Variante hin. Neben der akuten Erkrankung sind assoziierte Krankheitsbilder wie das “pediatric inflammatory multisystem syndrome” PIMS7,22 und Langzeitfolgen15,20,31, die bei anderen viralen Erkrankungen bereits gut beschrieben sind und sich bei SARS-CoV-2 andeuten, als relevant für die Beurteilung der Krankheitslast anzuerkennen13,14. Die akuten, subakuten und chronischen Folgen der Infektion bei Kindern sind lange nicht ausreichend berücksichtigt worden. Weitere schwerwiegende medizinische Langzeitfolgen einer Infektion sind bei Kindern und Jugendlichen nicht sicher auszuschließen8,9,13,16,17,20,21,23,24,26,29,30. Eine erhöhte Infektionsdynamik von Kindern überträgt sich in die Familien und kann zu weiteren Schädigungen durch schwere Krankheitsverläufe3, chronische Erkrankungen und eine erhöhte Mortalitätsrate in der Eltern und Großelterngeneration führen, wodurch die Kinder ebenfalls psychisch belastet werden5.
Kinder und Jugendliche müssen bestmöglich vor der Infektion geschützt werden.
Die Coronapandemie hat Kinder, Familien und Jugendliche neben dem direkten Infektionsrisiko massiv psychosozial belastet25. Psychische Belastungen für Kinder und Familien resultieren sowohl aus Einschränkungen aus Infektionsschutzmaßnahmen als auch aufgrund der allgemeinen Pandemiedynamik und Infektionsängsten19. Dies betrifft insbesondere Familien mit bestimmten Risikokonstellationen: Familien, deren Strukturen und Lebensumstände auch vor der Pandemie schon als vulnerabel und/oder belastet beschrieben wurden, Familien mit einem psychisch erkrankten Familienmitglied und Familien, die von Armut betroffen sind oder durch die Pandemiebedingungen einem Armutsrisiko oder der Gefahr des wirtschaftlichen Abstieges ausgesetzt sind5.
Aktuelle Zahlen zeigen nahezu eine Verdopplung der behandlungsbedürftigen psychischen Probleme bei Kindern und Jugendlichen25. Gleichzeitig ist das bereits vor der Pandemie stark ausgelastete psychosoziale Versorgungsystem nicht in der Lage, die Mehrzahl betroffener Kinder und Jugendlichen überhaupt zu versorgen6,11. Unhaltbar lange Wartzeiten auf2 Beratungs- und Therapieangebote sind die Folge12. Familien benötigen dringend eine aktive psychosoziale Unterstützung in der pandemischen Situation. Diese ist nicht durch “geöffnete” Bildungseinrichtungen allein gesichert5.
Auch jetzt schon ist absehbar, dass die psychosozialen Folgen der Pandemie sowie die Infektionsfolgen Kinder, Jugendliche und Familien noch weit über das Ende der Pandemie hinweg begleiten werden4,25. Daher muss das oberste Ziel politischer Maßnahmen sein, das Infektionsgeschehen und die Folgen bestmöglich zu kontrollieren.
Dies bedeutet für uns konkret:
● Kinder und Jugendliche müssen bestmöglich vor einer COVID-19 Infektion geschützt werden und insbesondere die Empfehlungen zum Infektionsschutz flächendeckend und verbindlich umgesetzt (z. B. AWMF S3-Leitlinie für sichere Schulen10) und um weitere Maßnahmen wie PCR Testungen und effiziente Masken erweitert werden.
● Die Impfungen von Kindern sollten effizient durchgeführt, niederschwellig angeboten und im Sinne einer Impfkampagne beworben werden18,27. Dabei könnte durch Impfungen an Schulen eine große Zahl an Kindern ein Impfangebot bekommen.
● Die Entwicklung von konkreten, verständlichen und umsetzbaren Empfehlungen wie Kinder und Jugendliche sichere Kontakte auch außerhalb der Schule gestalten können inklusive einer Aufklärungskampagne analog den AHA-Regeln.
● Die Sicherstellung des Kinderschutzes insbesondere in vulnerablen Gruppen wie sozial benachteiligten Familien und Familien mit Sprachbarrieren muss in Verbindung mit Infektionsschutzmaßnahmen Priorität haben.
● Im Fall von Schulschließungen und Quarantänen müssen niedrigschwellige, an sozialen Kriterien orientierte Notbetreuungskonzepte für gefährdete Familien angeboten und Jugendhilfemaßnahmen erheblich verstärkt werden. Zusätzlich sind die Entwicklung und Implementierung von digitalen Konzepten notwendig, um auch Familien, die vom Unterricht fernbleiben, zu unterstützen.
● Nur eine Minderheit von Kindern und Jugendlichen hat Zugang zur psychosozialen und psychotherapeutischen Versorgung6. Dafür werden dauerhafte und evidenzbasierte psychosoziale Angebote insbesondere mit schulischer Anbindung benötigt, da nur so alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können.
● Alle Maßnahmen müssen kontinuierlich evaluiert und ggf. angepasst werden. Dies bedeutet u. a. die Einrichtung eines prospektiven digitalen „Coronabarometers“ für Kinder und Jugendliche: wie geht es Kindern und Jugendlich körperlich, psychisch, wie ist die Impfbereitschaft?
● Der Kontrollverlust für Kinder und Familien muss beendet und die größtmögliche Vorhersagbarkeit geschaffen werden. Daher bedarf es auf allen Ebenen einer kohärenten Kommunikation, die für alle Bevölkerungsgruppen verständlich, konkret und umsetzbar ist.
AutorInnen der Stellungnahme in alphabetischer Reihenfolge:3
Prof. Dr. phil. habil. Menno Baumann
Intensivpädagogik
Fliedner Fachhochschule Düsseldorf
Cornelia Beeking
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Mitglied im Vorstand der Psychotherapeutenkammer NRW
Dr. Georg Hillebrand
Chefarzt Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
Cornelia Metge
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Mitglied im Vorstand der BPtK
Sprecherin des Ausschusses für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der OPK
Dr. Joachim Riedel
Ärztlicher Leiter Werner Otto Institut
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Neuropädiatrie
Prof. Dr. Julian Schmitz
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung
Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche
Universität Leipzig
Prof. Dr. Silvia Schneider
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie
Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ)
Ruhr-Universität Bochum
Dr. Jana Schroeder
Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie & Infektiologin
Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Stiftung Mathias-
Spital, Rheine
HIER ein die Stellungnahme begleitender Artikel in der Süddeutschen Zeitung/ SZ.de:
HIER das Interview mit Menno Baumann - Mitglied der interdisziplinären Fachgruppe - auf tagesschau.de:
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/interview-omikron-schulen-kitas-101.html